ENGLISH VERSION
(Gewinnertext Schreibwettbewerb BMZ 2023)
Guten Abend, gut’ Nacht, haucht sie und tritt näher an das Kinderbett, die dürren Finger nach mir ausgestreckt, mit Rosen bedacht, mit Näglein besteckt, schlupf unter die Deck.
Mit zittrigen Händen streicht sie mir über die kindlichen Wangen. Ihre Augen sind stechend und schwarz wie runde Knöpfe und bohren sich als Nachbild in meine Netzhaut ein. Ich schreie.
Ich bin achtzehn, mein Brustkorb senkt und hebt sich in raschen Bewegungen, meine Augen suchen wirr einen Fixpunkt, meine Finger krallen sich in meine Oberschenkelhaut. Die Uhr tickt dicht hinter mir und die weisse Farbe des Raumes blendet mich. Das Rauschen in den Wänden ist laut und mir ist nicht klar, wo das Rauschen in meinen Adern aufhört und dasjenige in den alten Leitungen beginnt.
Jemand steht neben mir, neben allen, neben sich. Irgendwo weit entfernt spüre ich eine Wärme auf meiner Haut, sie kitzelt vertraut. Zaghaft schaue ich auf. Eine verschwommene Gestalt mit gekrümmten Rücken, scheinbar erschöpft vom Stehen, und blasser, feiner Haut steht da und unterhält sich leise mit einer weiteren Person. Diese ist in einen weissen Schimmer gehüllt, die kantigen Gesichtszüge stechen in die Leere.
Als die Unbekannten bemerken, dass sie beobachtet werden, eilen sie auseinander. Der Geist dreht sich hastig um und hantiert so laut auf einem metallenen Tablett, dass die schrillsten Töne in meinen Ohren pochen und ich zusammenzucke. Flink greifen seine Arme nach einer Flasche, ein Glucken, ein Saugen, ein Zischen erklingt und einen Augenblick später sehe ich schwarz.
Ich liebe es, schwarz zu sehen. Es tauchen Farbflecken auf, sich kräuselnd und verrenkend, tanzend und springend und übermütig jauchzend, und ich versuche sie mit meinem Blick aufzufangen, doch sie lösen sich gleich wieder auf.
Punkte, warum wollt ihr kein Fangen spielen? Meine Stimme klingt seltsam verzerrt.
Wir dürfen nicht, höre ich einen Chor singen. Wir wollen dich verwirren.
Das Fangspiel führe ich eine Weile fort, bis ich frustriert aufgebe. Die Punkte verschwinden und die Dunkelheit kehrt zurück. Ich öffne die Augen und erwarte ein grelles Licht, doch da ist nichts. Erst nach und nach erkenne ich draussen ein schwaches Leuchten. Es ist kugelrund und von Schleiern durchzogen. Still sitzt er am Himmel, der Mond.
Bist du auch einsam?, frage ich ihn.
Eine Weile vergeht. Ja, antwortet er schliesslich mit tiefer Stimme. Ein alter, weiser Mann mit Bart aus Wolken. Der Himmel verdunkelt sich.
Dann wird es unter dem Türspalt hell, ein Licht geht an. Ich höre ein leises Tappen auf dem Linoleumboden, dann ein Räuspern und ein paar Sekunden später ein leises Klopfen an meiner Tür. Erschrocken sehe ich den Mond an und lege den Zeigefinger auf meine Lippen.
«Ja?», rufe ich zaghaft.
Kann ich reinkommen? Die Stimme ist hell und klar und wie hundert goldene Glöckchen klingend. Mutter. Rasch schubse ich den Mond aus dem Zimmer und gebe ihm mit einem seitlichen Nicken zu verstehen, er solle wieder zurück an seinen Platz gehen.
«Komm herein», antworte ich und die Tür öffnet sich. Erst sehe ich nur ihre Umrisse und ihr vom Flurlicht beleuchtetes krauses Haar. Dann tritt sie vorsichtig ein und schliesst die Tür hinter sich. Jetzt ist sie nicht viel mehr als ein Schatten. Sie tritt näher an mein Bett und krallt ihre Finger in die weisse Krankenhausbettdecke. Stumm sieht mich Mutter an.
Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt, beginnt sie zu singen, morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.
Verwirrt sehe ich meine Mutter an. Andauernd singt sie. Als wäre sie in einer Endlosschleife gefangen. Ich verziehe das Gesicht.
«Hör auf zu singen», flüstere ich.
Sie bewegt ihre Lippen weiter. Guten Abend, gut’ Nacht! Von Englein bewacht, trällert sie weiter und zerrt an der Bettdecke. Mit einem Ruck fällt sie auf den Boden. Meine nackten Beine entblössen sich ihr.
«Hör auf zu singen», sage ich bestimmt und versuche, sie mir vom Leibe zu halten.
Sie zeigen im Traum, sie lächelt zuckersüss, dir Christkindleins Baum.
«Hör auf zu singen», schreie ich nun und schüttle ihre zarten Hände ab, die sich auf meine Haut legen. Ich schlage auf sie ein, treffe aber nur Luft. Wild trete ich um mich und zerre mir das weisse Hemd über den Kopf, um irgendetwas gegen sie in der Hand zu haben. Verängstigt werfe ich es ihr an, doch es landet auf dem Boden.
«Verschwinde», zische ich, «verschwinde, verschwinde, verschwinde.» Meine Stimme gleicht mittlerweile einem Heulen.
Plötzlich geht draussen ein Licht an. Siegessicher schaue ich Mutter an. «Es ist vorbei», sage ich und sehe in ihre dunklen Knopfaugen. Dann ist sie auf einmal weg. Überrascht sehe ich mich um.
Luftschnappend stehe ich allein im Raum, bis ich an der Tür eine Gestalt bemerke.
«Meine Güte», sagt die Krankenschwester aufgebracht und watschelt auf mich zu. «Was stehen Sie denn um diese Uhrzeit halbnackt in Ihrem Zimmer rum?»
Sie wirft einen Blick auf meinen blanken Körper und schliesst dann das Fenster, bevor sie mein Gewand aufhebt und es mir überstülpt. «Ihre Mutter?», ist alles, was sie dazu sagt. Ihr Rosenwasser brennt in meiner Nase. Ich schlucke. Die Kurzhaarfrisur der Fünfzigjährigen steht in stachligen Spitzen von ihrem Kopf ab, die dicken Arme wackeln bei jeder Bewegung.
«Legen Sie sich wieder hin», sagt die Schwester und lächelt. «Es ist vorbei.» Sie büschelt das Kissen und legt die Decke zurecht. «Versuchen wir es nochmals mit Lithiumsalzen?», fragt sie mich und verlässt den Raum, noch bevor sie mein erschöpftes Nicken sehen kann. Müde krieche ich unter die Bettdecke und wickle mich darin ein. Die Punkte an der Decke vermischen sich zu einem angenehmen Rauschen. Draussen höre ich ein feines Grillenzirpen und den Mond über Einsamkeit klagen. Ich vermisse ihn. Ruhig atme ich tief ein und aus.
«So, da wäre ich wieder», platzt die Pflegerin ins Zimmer. In ihren
Händen hält sie ein Tablett, darauf ein durchsichtiges Becherlein mit einer gelben, klaren Tablette sowie ein Glas Wasser.
«Nehmen Sie das», sagt sie und hält mir das Medikament unter die Nase. Ich reagiere nicht. «Es wird Ihnen bald besser gehen, wenn Sie Ihre Tablette nehmen», bestärkt sie mich.
«Warum?», will ich wissen und rühre das Gelb nicht an.
Sie seufzt. «Weil Lithium gegen manische Episoden einer bipolaren affektiven Störung hilft», antwortet sie.
Ich starre sie an. Irgendetwas ist komisch. Liegt es am fehlenden Licht oder sind ihre Augen dunkler geworden? Abwechselnd betrachte ich sie und die Tablette in ihrer Hand. Ihr Haar ist spröder geworden. Und die Augen sind jetzt schwarz, da bin ich mir sicher.
«Kennen Sie Brahms?», frage ich sie. Sie hält inne.
«Wen?»
«Johannes Brahms», sage ich, «ein fabelhafter Komponist des
neunzehnten Jahrhunderts, Verfasser des Liedes Guter Abend, gut’ Nacht.» Ich erkenne, wie sich ihr Blick verengt. «Kennen Sie ihn?»
Sie erwidert nichts, bleibt stumm. Ich weiss, dass ihre Stimme nun hell klänge, spräche sie nur. Der Schwindel schwindet auf einmal und ich sehe klar. Ihre Knöchel treten unter der dicken Hautschicht weiss hervor. Ihr Atem geht schneller. Lieblich lächle ich sie an. «Sie kennen ihn.» Zufrieden bücke ich mich zu ihr herunter.
«Schlaf nun selig und süß», hauche ich und drücke ihre Kehle zu, «schau im Traum ‘s Paradies.» Ihre Augen werden glasig und sie sackt in sich zusammen. Leise fällt die Lithium-Tablette auf den Boden und rollt unter das Krankenbett. Ich bücke mich zu Mutter hinunter.
«Schlaf nun selig und süß», flüstere ich ihr Brahms Nachtlied ins Ohr, «schau im Traum ‘s Paradies.»
Ich hole Luft. Das Blut rauscht in meinen Adern. Ich bin achtundvierzig, trage mein verwaschenes Nachthemd mit den weissen Punkten, stehe in der psychiatrischen Klinik Klein-Ulm irgendwo am Rande der Welt, und ich habe gerade meine Mutter umgebracht. Ich breche in schallendes Gelächter aus. Die Welt ist herrlich.
Anfang / Ende
Ich schaue hinauf zu meinem Mantel. Unberührt liegt er seit vielen Tagen in der obersten Schublade des Schrankes, sorgfältig gefaltet und von Staub überzogen. Ich halte inne, stehe da wie vom Blitz getroffen. Der Boden wankt auf und ab wie Wasser bei Sturm. Mein Kopf dröhnt, es knallt und pocht in rascher Folge. Stumm falle ich in die weichen Kissen und vergrabe mein Gesicht in ihnen. Mein Haar rutscht vor meinen Blick und es wird dunkel. Ich mag mich erinnern.
Draussen brennt die Sonne heiss auf die Welt. Bunte Köpfe bewegen sich den Hügel herauf und herunter, dazwischen schwarze Fellknäuel, die freudig hin und her sausen. Ein Anblick der sommerlichen Ordnung der Monotonie.
Ich schmunzle, wenn ich daran zurückdenke, dass ich vor gar nicht allzu langer Zeit selbst Marionette gespielt habe. Zieh’ an diesem Arm, ich bewege mich dorthin. Zieh’ an der gegenüberliegenden Seite und ich folge dir. Ich konnte mich nicht selber bewegen, war angewiesen auf jemanden, der mir zeigt, wohin einen das Leben führt, hatte auf die Anweisung gewartet und dann genickt. Immer und immer wieder. Etwas anderes war mir nicht möglich erschienen, obwohl ich oft den Drang verspürt hatte, mich loszureissen aus dieser Welt der Befehle.
Dass ich eine freiere Ansicht auf das Leben hatte, erkannte ich erst, als ich mich bereits in meinem neuen Leben verfangen hatte. Ich hatte es gespürt, wenn ich die sorgfältig arrangierten Holundersirupflaschen auf dem Kellerregal stehen sah, wenn unzählige Erdklümpchen wie gefallene Krieger auf dem Wohnzimmerboden verstreut lagen und wenn ich ihm abends mit schweren Armen erschöpft den warmen Apfelkompott in den winzigen Mund schaufelte. Ich wusste tief drinnen, dass es nicht war, wonach ich mich sehnte, aber tat es jedes Mal mit einem Nicken ab. Dabei ging mir das Lächeln verloren.
Ich weiss nicht, wieviel Zeit vergangen ist, bis ich den Entschluss gefasst habe, einen Neuanfang zu wagen. Alles hinter mir zu lassen. Ich bin stets davon ausgegangen, dass mich ein schlechtes Gewissen gegenüber meinem Freund plagen würde, doch da lag ich falsch. Ich kam gar nicht dazu, mir darüber Gedanken zu machen, so beschäftigt war ich den ganzen Sommer über, und als die sonnigen Tage sichtlich kürzer wurden, hatte ich die Vergangenheit schon fast vergessen.
Meinen Sohn meldete ich in einer Kleinklasse für entwicklungsverzögerte Kinder an. Es geht ihm gut dort. Er lernt schnell und freundete sich mit einem Jungen aus unserer Nachbarschaft an, der gelegentlich bei uns zu Mittag isst. Manchmal bringt er eine hübsche Zeichnung nach Hause, die ich an den Kühlschrank hänge, wo ich sie immer sehen kann. Ab und an erfüllt mich dann ein unvorhergesehener Stolz. Uns beiden gefällt unser neuer Alltag zwischen den Gassen und den hohen Feldern. Hier können wir all unsere Bedürfnisse stillen.
Die Stelle im Kindergarten habe ich gekündigt. Der Weg von der Stadt ins Dorf war dann doch etwas zu lang, als dass ich ihn jeden Tag aufs Neue hätte gehen können. Ausserdem ahnte ich, dass nicht viel Zeit vergehen würde, bis sich mein früherer Freund auf sein Fahrrad setzen und mich vor der Arbeit abpassen würde. Ich arbeite jetzt in der lokalen Bezirksschule und verdiene dort das Geld, das wir benötigen, um die Miete für unser kleines Häuschen am Stadtrand zu bezahlen. Weil mein Sohn die Natur dann doch deutlich zu vermissen schien, habe ich nach einem Haus mit Garten gesucht. Wenn das Wetter es erlaubt, spielt er draussen in den hohen Wiesen und nimmt die Gräser genau unter die Lupe. An guten Tagen können wir sogar in den Hügeln spazieren gehen.
Langsam öffne ich die Augen. Der Schwindel hat nachgelassen. Draussen zwitschern die Spatzen und ich höre die Kinder jauchzen. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Ich richte mich auf und schaue in die Schrankecke. Dort liegt er, der Mantel, sorgfältig gefaltet und von Staub überzogen. Ich stehe auf und strecke meine Arme nach dem Stoff aus. Er fühlt sich weich und vertraut auf meiner Haut an. Behutsam lege ich ihn auf die Bettkante und starre auf das, was viele Tage unter dem Stoff bedeckt war, versteckt und missachtet geworden ist. Fünfhundertelf Briefe liegen da oben. Einen Augenblick lang zögere ich und nehme sie dann bedächtig heraus. Sie fühlen sich schwer an. Ich schaue aus dem Fenster und höre meinen Sohn etwas rufen, bevor ich wieder auf die Last in meinen Händen blicke. Vielleicht ist das der Anfang eines Endes, womöglich das Ende eines Anfangs.
Achtzehntausend Tonnen schwer liege ich unter dem blassen Himmel und denke an ein Feigenbrot mit Honig. Unter mir schleicht sich der Sand in meine Jeans und krabbelt in meine Socken. Unangenehm. Alles läuft schief. Ist schief das Gegenteil von gerade oder ist es rund?
Der Bauer Schmidt
«Mit dem Abbau des Karsthügels geht die Welt unter, für die Aussenwelt still und unbemerkt, doch für Schmidt von grosser Bedeutung». Mit diesem Satz beginnt die Geschichte des Bauern mit dem Namen Schmidt. Er wohnte in Ballikon, einem winzigen Dorf mit knapp dreissig Einwohnern, fernab der Grossstadt Zürich mit ihren zig Türmen und Flüssen und Einkaufsmeilen. Er hauste in einer Baracke; ja das war die einzige Bezeichnung, die der Schuppen verdiente. Es waren ein paar einfache Holzbretter, die der gebürtige Schweizer mit Nägeln zusammengebastelt hatte, darin ein Holzpflock, den er als Tisch benützte – er hatte sogar ein rotweisskariertes Tischtuch darübergelegt, es gefiel ihm sehr – und ein paar weitere Pflöcke und Kisten mit ein paar wenigen Habseligkeiten. Dazu zählte eine goldene Armbanduhr (sie war übrigens einer der vielen Gründe, weshalb er die Stadt mied, er dachte immerzu, die Kostbarkeit würde ihm dort geklaut werden), eine Tasse aus brüchiger japanischer Keramik, ein alter Rucksack aus Wildleder, zwei Gabeln, drei Messer und ein Suppenlöffel. Hinzu kam eine Thermoskanne, die er täglich benutzte und ein ausgeleiertes, plattes Daunenkissen.
Ein Sturm zieht vorbei
Melancholie steigt auf
Die Windböe macht kehrt
Melancholie steigt auf
Die Windböe macht kehrt
Grashalmgrün im Wind
zieht der Sommer aus
zurück bleibt Wahnsinn
zieht der Sommer aus
zurück bleibt Wahnsinn
Wo die Zeit hinfällt,
drehe ich mich rasch um
Der Fluss fliesst bergauf
drehe ich mich rasch um
Der Fluss fliesst bergauf
Baustelle vor’m Schloss
Der König weint Gold
Nasser Samt hängt schlaff
Der König weint Gold
Nasser Samt hängt schlaff
Der Fisch verschluckt sich
Blasen blubbern, plopp, plopp
Der See stirbt wortlos
Blasen blubbern, plopp, plopp
Der See stirbt wortlos
Manchmal zirrpt die Maus
Der Fuchs wiehert drauflos
Der Wald frisst alles auf
Der Fuchs wiehert drauflos
Der Wald frisst alles auf
Ich hatte die Frau mit dem orangenen Hut tausendundfünfundneunzig mal gesehen, bevor sie eines Tages spurlos verschwand. Über eineinhalb Jahre hinweg hatte sie jeden Morgen im gleichen Bus wie ich gesessen, war dann an der Riedhofstrasse ausgestiegen und quer zur Fahrtrichtung den Hügel hinaufgelaufen, die schwarze Ledertasche über der zierlichen Schulter schaukelnd. Sie hatte ihren Tag fortgeführt in einem Dienstzimmer mit hohen Decken und einem einzelnen, kantigen Tisch aus schwarzlackiertem Holz, hinter dem sie acht Stunden lang sass, Telefone abnahm – «Büro Schmidt, Frau Knäule am Apparat, was darf ich für Sie tun?» – und die Hälfte des Tages aus dem Fenster schaute. Ich stellte mir vor, wie ihre dunklen Augen über die Weinreben huschten, im Tal dahinter das geschäftige Zürich und noch weiter hinten, am fernen Horizont, kaum vernehmbar, der Üetliberg, dessen Spitze weit in den blassen Himmel ragte. Sie runzelte die Stirn zu Rosenblättern und fragte sich, wie die Menschen sich nur über ihr Leben hier beklagen konnten, wie sie den Drang verspüren konnten, ihr Leben hinter sich zu lassen und irgendwo, am anderen Ende der Welt, ein neues Leben aufzubauen. Sie hatte nie mit dem Gedanken gespielt, fortzugehen. Ihr Herz war hier daheim: Seit sieben Jahren arbeitete sie im selben Architekturbüro für Christopher, einen Mann mit kahlem Kopf und schaurigem Doppelkinn, ihre Mutter, die seit fast einem Jahr mit dem Krebs kämpfte, war in der Klinik Hirslanden stationiert und ihre beste Freundin Luise wohnte im selben Block, nur ein Stockwerk oberhalb ihrer eigenen kleinen Wohnung.
Ihr Zuhause bestand aus einem engen Eingangsbereich, in dem zwei Paar Schuhe – ihre Stiefel und ein abgewetztes Paar Turnschuhe –, ein hölzerner Garderobenständer mit ihrem Mantel und einer leichten Seidenjacke für wärmere Tage, Platz hatten und einem Schirm, der in der Ecke stand. Bog man rechts ab, gelangte man in die Küche. Bräunliche Fliesen zierten die Wand zwischen Kochplatte und Tassenschrank. Die vier Tassen, die darinstanden, hatte sie auf dem Flohmarkt für zwei Franken ergattert. Gäste waren selten zu Besuch. Zwischen Waschbecken und Herd stand ein einziger trockener Strauch Basilikum, daneben eine Reihe an Gewürzen in Glasbehältern. Wenn sie ihre kostbaren Abende nicht bei ihrer Mutter in der Klinik verbrachte, kochte sie am liebsten Nudeln an einer Pilzrahmsauce mit einem Schuss Wodka, nur für sich. Dazu trank sie gerne Kräutertee. Nachdem sie Pfanne und Tasse gespült, abgetrocknet und abgeräumt hatte, zog sie sich jeweils ins Wohnzimmer zurück. Ein durchgesessenes Sofa aus den Achtzigern nahm einen Viertel des Raumes ein. Davor lag ein kreisrunder Teppich mit roten, kurzen Stoppeln, die gegen oben bleich wurden. Darauf stand ein Glastisch mit einigen Modemagazinen. Sie hatte sie nie gelesen. Die Wände waren weiss gestrichen, doch hatten mittlerweile einen leicht gelblichen Farbton angenommen. Sie scheute sich nicht vor dem Rauchen in der Wohnung. Ihr Vermieter hatte nichts dagegen. Er hatte beim Unterschrieben des Mietvertrages nur gesagt, sie müsse bei ihrem Auszug die Wände streichen, ansonsten müsse sie den Maler bezahlen und das könne sehr, sehr teuer werden. Sie hatte brav genickt und sich insgeheim gedacht, wie dumm der Vermieter war, sie würde hier für keine zehn Pferde mehr ausziehen. Nachmieter würde es keine geben. Das hier, das war ihre Wohnung, bis sie sterben würde. So hatte sie sich das vorgestellt.
Es war ein lauer spätsommerlicher Freitagabend, als ich aus mir ausbrach und Marlen spurlos verschwand. Beim Gedanken daran wird mir immer ganz schwindlig. Als Kind hatte ich oft in den Nachrichten gelesen, dass Menschen verschwanden. Sie waren auf einmal weg, und die Familien sorgten sich, gaben eine Vermisstenmeldung auf und flehten um Gottes Gnade, er solle ihnen die Sünden verzeihen und doch das liebe, tüchtige Töchterlein zurückbringen. So wurde es dargestellt. In echt ist es gar nicht so, es ist alles anders. Vielleicht liegt es daran, dass das hier nicht Amerika ist, sondern Buchs, eine kleinkarierte Gemeinde am Rande Zürichs mit knapp über fünftausend Einwohnern.
Marlens Verschwinden kam nicht überraschend. Auch wenn ich es zu der Zeit nicht als solche empfunden hatte, so hatte sie uns doch immer wieder kleine Hinweise darauf gegeben. Die Leute hatten stets gedacht, wir zwei wären Geschwister gewesen: Wir teilten dasselbe rote Haar, das gegen unten spröde und strohig wurde, die Augen erzählten eine ähnliche Geschichte und in der ersten Monatsnacht tanzten wir gerne unter dem nackten Himmel, nur wusste das keiner ausser uns.
Drei Monate vor ihrem Verschwinden hatte Marlen sich auf einmal das Haar rot gefärbt, ein Rot so dunkel und dicht wie Wein. Die Nägel malte sie in der gleichen Farbe an. Tanzen wollte sie nicht mehr in der ersten Nacht des neuen Monats, sondern am liebsten jeden Tag. Sie hätte so viel auszudrücken, hatte sie gesagt in ihrer Stimme, die ehemals klang als hätte sie Zuckerwatte verschluckt. Jetzt erinnerte sie eher an ein aufgebrachtes Pferd. Über die Wochen hinweg erwähnte sie immer wieder ihre Sehnsüchte nach einer fremden Stadt. Sie wünschte sich hohe Wolkenkratzer und glänzende Glasfasaden ohne Fingerabdrücke, wilde Abenteuer in Absatzschuhen, die entzückt und verführerisch über den Beton klackerten und eine Sicht auf die ganze, weite Welt aus einer luxuriösen Penthousewohnung.
Vor Kurzem hatte Marlen ihren zweiten Freund kennengelernt, einen Jurastudenten, der ihr genau diese Welt versprach, aber die Welt, die er meinte, bestand in Wahrheit aus einer Zehnquadratzimmerwohnung ein Dorf nebenan, zwei Jungkatzen und Verpflichtungen und Verantwortungen, denen sie mit einem Holzbesen nachzujagen hatte, noch bevor sie das erste Mal miteinander geschlafen hatten. Ich verurteilte sie nicht dafür, dass sie nicht genauer hingeschaut hatte; mir wäre es wahrscheinlich gleich ergangen. Hilflos war sie hineingerutscht in die Falle, die ihr Samuel gestellt hatte. Er hatte sie umwickelt mit seinem grellen Weisszahnlachen und den Geldscheinen der Eltern, mit nassen Küssen (am Anfang erzählte sie mir noch alle Details, danach passierte zu viel, als dass sie mir alles hätte berichten können) und unüberlegten teuren Geschenken. Ich vermute, dass Marlen an diesem Abend der Kragen geplatzt ist, doch wer weiss schon, was in ihr vorgegangen ist.
Für Aussenstehende mochte sie etwas merkwürdig erscheinen, vielleicht sogar ein wenig verrückt, aber das war genau das, was ich an ihr mochte. Ich liebte, dass sie sich wie ein Regenbogen kleidete. Sie trug gemusterte Blusen, bunte, selbstgemachte Strickpullover, gebastelte Ohrringe in Pilzform, gestreifte Strumpfhosen und Röcke mit aufgestickten Kringelmustern. Sie erzählte mir davon, dass sie in ihrer Freizeit gerne vom Surrealismus inspirierte Kostüme nähte, und während sie davon sprach, leuchteten ihre Augen wie zwei Sonnen. Ich sah sie an der Nähmaschine ihrer Grossmutter sitzen, wie ihre zarten Finger über weichen Samt fuhren, ihn zu neuem Leben weckten, wie sie Spitzensäume nähte, mit Goldperlen hantierte und wie sich ihre Träumereien in eine bizarre Wirklichkeit verwandelten.
Maja mochte Erdbeeren nicht. Ich werde nie verstehen, wie das geht, aber ich habe mich damit abgefunden. Abgesehen davon mochte sie alles essen, und sie wusste auch, wie sie es kochen musste. Ich weiss nicht, wie sie das schaffte, aber sie hatte ein Auge für die Details. Egal ob es sich um Stoffe oder Menüs handelte, sie wusste, wie sie die Menschen umwerfen konnte. Sie war jemand, der sich zum Frühstück nicht nur einen Toast mit Marmelade machte, nein, sie buk duftendes Vollkornbrot mit Nüssen, legte frische Avocadostreifen darauf, gewürzt mit Salz, Pfeffer, Knoblauch und hauchdünn geschnittenen Frühlingszwiebeln. Hinzu kam Rührei gemischt mit angebratenen Zwiebeln und eine Handvoll rote Trauben. Sie versuchte stets, das Beste aus allem zu holen und sah in Einkaufstouren ein lustiges Abenteuer. Mit Maja war alles lustig.
Natürlich schliefen wir auch miteinander. Sie war die erste Frau, in die ich mich verliebte und der erste Mensch, mit dem ich schlief. Unser erstes Mal war aufregend und wunderschön und mein Herz pochte so laut, dass ich befürchtete, die Nachbarn würden es hören. Für Maja war es zwar nicht das erste Mal Sex, aber sie zeigte mir langsam, wie es ging. Als sie mit ihrem Kopf zwischen meine Beine ging, mich fragte, ob sie dürfe und mich dann sorgsam berührte, ging über mir ein helles Licht auf und ich fühlte alle Liebe der Welt zwischen uns. Ich dachte, mein Herz müsse zerspringen, so voll war ich von Glückseligkeit. Ich liebte die Töne, die sie von sich gab, wenn sie sich tänzerisch und wie selbstverständlich über mir bewegte, ohne jegliche Spur von Furcht. Ja, Maja war furchtlos.